Schwerindustrie, wo keine mehr ist
Zu Besuch bei MAN Diesel & Turbo

Die Fassade vom ehemaligen Escher Wyss-Gebäude ist trügerisch. Hinter dem unscheinbaren Gemäuer befindet sich ein weitläufiges Areal, auf dem Maschinen gebaut werden. Keine kleinen Schrauben, sondern tonnenschwere Anlagen. Die Firma MAN Diesel & Turbo produziert dort Kompressoren – inmitten des Quartiers und inmitten einer über 200 Jahre alten Industriegeschichte.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war es ein gewisser Hans Caspar Escher, der bei der ersten Aktiengesellschaft der Schweiz – die Firma mit dem Zungenbrecher-Namen «General-Societät der englischen Baumwollspinnerei in St.Gallen» – die Aufwartung der hauseigenen Maschinen übernahm. Von dieser Arbeit beflügelt gründete er mit Salomon von Wyss alsbald ein eigenes Unternehmen. Eine Baumwollspinnerei war es, die Firma Escher, Wyss & Cie war geboren. Die industrielle Revolution lag nur noch einige Jahre entfernt in der Zukunft und die Produktion von Escher Wyss weitete sich stetig aus. Komplette Textilmaschinen, Wasserräder, Dampflokomotiven – man begab sich auf die Schiene der Schwerindustrie, der Maschinenbau war lukrativer als die Spinnerei. Mit dem Erfolg kam der Ausbau, das Areal wurde grösser und grösser, es nahm riesige Ausmasse an. Doch mit dem Aufstieg kam der Fall. Wirtschaftskrise, Insolvenz, kurzes Aufbäumen und erneute Krise. Diese Umstände führten 1966 zum Verkauf. Der Industriekonzern Sulzer übernahm das Ruder. 2001 kommt es zum nächsten Wechsel: Sulzer fusioniert mit MAN Turbo.

Ich schlendere vom Bahnhof Hardbrücke unter dem namensgebenden Übergang in Richtung Escher Wyss-Platz. Wie so viele in diesem Quartier gehöre ich zu einer Generation, welche die pulsierende Industrie dieses Ortes lediglich aus Erzählungen kennt. Der Kreis 5 bedeutet für mich Wohnfläche, Dienstleistung und Unterhaltung. Von lärmenden Apparaturen, Metallgeschmack und Russ in der Luft habe ich keine konkrete Vorstellung. Zwar ist das «alte Quartier» immer wieder spürbar, jedoch in einem romantisierten Kontext. Escher Wyss weckt Vorstellungen von schweren Jungs, die bei gleissender Hitze Metallteile umherhieven, die altehrwürdigen Hallen des Schiffbau lassen die Besucher Luft aus der Industriellen Revolution schnuppern. Ich komme am oberen Ende der Hardstrasse an und stehe vor dem Gebäude der ehemaligen Escher, Wyss & Cie.

Der Schein trügt

Ein unscheinbarer Bau. Simple Fassade, etwas in die Jahre gekommen. Ein altes Gebäude, angeschrieben mit MAN Turbo & Diesel. Ich will wissen, was sich dahinter befindet und was hier eigentlich gemacht wird. MAN, das sind doch diese Lastwagen. Das Logo mit dem Löwen drauf. Der Name steht für Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg. Das Unternehmen ist noch älter als Escher Wyss und geht bis ins Jahre 1758 zurück. Der Otto-Normalverbraucher bringt die Firma tatsächlich mit Lastwagen in Verbindung, sieht er sie doch regelmässig auf unseren Strassen. Doch MAN ist nebst dem Fahrzeug- auch im Maschinenbau tätig. Unter anderem Turbomaschinen, sprich Turbinen und Kompressoren. Als Laie kenne ich den Turbo höchstens aus dem Motor eines Autos, doch hinter der unauffälligen Fassade verbirgt sich weitaus schwereres Geschütz. Das will ich mir genauer ansehen.

Ich betrete die Eingangshalle, wo mich Claudine Bargetzi und Roberto Rubichi erwarten. Beide arbeiten in der Kommunikationsabteilung. Vorher muss ich noch eine Besucherbestätigung unterschreiben und ich erhalte eine Zutrittskarte. Wird hier etwas Geheimes gebaut? Wir setzen uns erst einmal hin. Frau Bargetzi ist schon lange dabei, Herr Rubichi ist erst frisch dazugestossen. Das sei schon gut, dass sie seit vielen Jahren im Team sei, meint Frau Bargetzi, denn die Maschinen, die MAN herstellt, haben eine Lebensdauer von bis zu 40 Jahren. Es sei ein Vorteil, wenn man über all die Jahre einen guten Überblick über die Kunden hätte. So richtig genau weiss ich immer noch nicht, was das für Maschinen sind.

Frau Bargetzi klärt mich auf: «Wir produzieren unter anderem die Herzteile von Turbokompressoren und
machen auch die Endmontage.». Kompressoren verdichten Stoffe. Dazu nimmt der Kompressor Luft aus der Atmosphäre oder andere Gase auf, drückt sie zusammen und befördert sie dann in einen nachgelagerten Prozess. Könnte man in das Kompressorinnere sehen, würde man – ähnlich einem Ventilator – einen Propeller erkennen, der sich um die eigene Achse dreht. In beinahe allen industriellen Abläufen kommen Kompressoren zum Einsatz. In der Stahlindustrie, der Papierproduktion oder der Öl- und Gasförderung sind sie unverzichtbar. Insbesondere bei Letzterem ist MAN kürzlich ein Coup gelungen.

Doch bevor ich in die Details eintauche, nimmt es mich wunder, wie die Firma an diesem ehrwürdigen Fleckchen funktioniert. «Wir sind etwa 950 Leute, 250 davon arbeiten in der Produktion oder am Prüfstand», so Bargetzi. Ich bin erstaunt, denn nach so vielen Mitarbeitenden sieht das Gebäude beim besten Willen nicht aus. Doch eigentlich geht die Zahl auf, rein flächenmässig zumindest. Bürotrakt, Produktionshallen und Prüfstand

reichen bis hinter den Puls 5. Zu Gründungszeiten war das Escher Wyss-Areal quasi noch im Grünen, heutzutage ist es mitten im Stadtgebiet, dort wo man definitiv keine Industrie erwartet. Ein Umzug werde immer wieder diskutiert, aber im Endeffekt sei es eben gerade der Standort, der gut ausgebildete Fachleute anziehe, erklärt Bargetzi. Die zentrale Lage ist ideal für eine unkomplizierte Anreise. Zudem wäre ein Umzug kostenmässig enorm aufwendig. Daher bleibt MAN im Herzen des Quartiers.

Es ist auch die Stadt selber, die MAN haben möchte. Corine Mauch schaut an und wann vorbei und auch der Stadtrat ist im Kontakt mit dem Unternehmen. Bargetzi ergänzt: «Das hat sich in den letzten paar Jahren und unter dem jetzigen Geschäftsführer entwickelt.». Es ist allerdings auch nötig, dass MAN mit den Behörden zusammenarbeitet. Zum Beispiel, wenn es um das Management des enormen Stromverbrauchs geht, der beim EWZ angemeldet wird. Der Prüfstand frisst so viel Energie, dass es auch schon zu einem Stromausfall im Quartier kam. Das geschah in weiter Vergangenheit und ist heute zum Glück kein Thema mehr. Aber auch die Zu- und Wegfahrtswege sind immer wieder ein Thema. Durch die vielen Bauprojekte im Kreis müssen diese immer wieder neu konzipiert werden.

Erstaunliches habe ich bis jetzt erfahren. Wir sitzen noch immer beim Eingang, viel vom Unternehmen habe ich noch nicht gesehen, mir dämmert aber langsam, warum die meisten Bewohner rund um das Gelände keinen blassen Schimmer haben, was hier eigentlich vor sich geht. Das liegt zum einen daran, dass MAN keine Produkte für den Endverbraucher herstellt und zum anderen, dass die Produktion gut versteckt hinter den simplen, sichtbaren Fassaden liegt. Genau dort möchte ich jetzt hin.

Zeitreise

Wir betreten einen Innenhof, der den Blick auf die Produktionshallen freigibt. Ehrwürdige Mauern erheben sich. Man kann den Geist der Vergangenheit beinahe spüren. Doch nicht nur die Zeit scheint sich zu verändern, sondern auch der Raum. Ich habe nicht mehr das Gefühl, in Zürich zu sein. Keine Spur von dem aufkeimenden Kreis 5, auf dessen Trottoirs sich Hipster und Anzugsträger kreuzen. Nein, ich bin in einer anderen Dimension angekommen. Ich bin in der Welt von Escher Wyss.

Sicherheit geht vor, Schutzbrillen sind Pflicht, vorher darf die Halle nicht betreten werden. Die Räume sind riesig. Und alt. Vieles davon ist Denkmalgeschützt. Die Vergangenheit ist überall zu erkennen. So sind an manchen Stellen Vertiefungen im Boden eingelassen. Das war, damit man Bereiche der Montage mit Wasser füllen konnte. An der Decke hängt eine Uhr aus vergangenen Zeiten. Die Produktionshallen sprühen nur so vor nostalgischem Charme. Doch auch die Gegenwart kommt nicht zu kurz.

Vor uns steht eine mehrere Tonnen schwere Maschine. Oder soll man es besser Installation nennen? Sie ist auf jeden Fall rund zweimal so gross wie eine gewöhnliche Autogarage. Weiter geht es zur Fräsmaschine. Hier werden die verschiedenen Bauteile – Gehäuse, Wellen, Laufräder, Schaufeln et cetera – hergestellt. Ein acht Tonnen schwerer «Rohling» kann gut und gerne auf drei Tonnen heruntergearbeitet werden. Auf Hundertstelmillimeter genau.

Auch die Wartung und Reparatur ist ein wichtiger Bestandteil. Arbeiter überprüfen kleinste Bauteile, messen den Druck, schauen sich Zahlen an. Wir folgen strikt den Gehwegen. Baustellen dürfen wir nicht betreten. Plötzlich stehen wir in einem anderen Teil der Halle. Der neue Bereich wurde 1992 gebaut. Mittlerweile herrscht bereits wieder Platzmangel. Hier, in diesem moderneren Trakt, steht der eingangs erwähnte Coup von MAN. Es ist ein sogenannter Subsea-Kompressor, der für die Öl- und Gasförderung direkt am Meeresboden zum Einsatz kommt. Es sei für MAN wie eine Mondlandung, sagt Bargetzi. Das Unternehmen ist mit dem Produkt Vorreiter und Innovator auf dem Gebiet.

Wir verlassen die Hallen, ziehen am Puls 5 vorbei und betreten ein weiteres Gelände. Die Prüfstände sind hier untergebracht. Eine komplette Installation kann nicht direkt zum Kunden gebracht werden, sondern muss erst auf Herz und Nieren getestet werden. Daher nennt Bargetzi den Prüfstand auch liebevoll EKG. So ein Test braucht seine Zeit. Zuerst muss die Anlage aufgebaut werden. Dann folgt der Test und nach dem Abbau wird sie an den Kunden geliefert. Im Endeinsatz wird oft mit gefährlichen Stoffen wie Kohlenwasserstoff gearbeitet. In der Simulation wird dafür ein harmloses Testmedium verwendet. Auch hier geht die Sicherheit vor. Die Testläufe sind von eminenter Wichtigkeit, denn jeder Kompressor muss auf die individuellen Bedürfnisse des jeweiligen Kunden angepasst werden. Die Tests laufen in der Regel nachts, weil dann der Strom günstiger zu beziehen ist.

Doch was passiert mit diesen gigantischen, tonnenschweren Biestern? Irgendwie müssen die zum Kunden gelangen. Nichts Einfacheres als das. Die Anlagen werden nämlich, simpel ausgedrückt, auf Lastwagen verladen und gehen als Schwertransporte aus den Hallen der MAN. Nicht selten sind Passanten, die sich beim Puls 5 oder in der Umgebung tummeln verwirrt und erstaunt ob der Fracht. In über 100 Länder exportiert MAN.

Die Führung findet beim Prüfstand ihr Ende. Wir haben ein grossflächiges Areal durchquert, hier arbeiten beinahe 1000 Menschen, kolossale Gerätschaften werden produziert, die auf der ganzen Welt installiert werden. Es braucht einen Moment, bis ich das realisiere. Als ich nach draussen trete und nochmals das unscheinbare Gebäude am Escher Wyss-Platz betrachte, habe ich das Gefühl, mehr Verständnis für die glorreiche Vergangenheit dieses Komplexes zu haben. Der Kreis 5 wäre ohne die Maschinenindustrie nicht das, was er heute wäre. MAN trägt diesen Geist weiter, auch wenn es nur im Hintergrund ist. So ziehe ich wieder in Richtung Bahnhof Hardbrücke, vorbei an Hipstern und Anzugträger und denke mir dabei nur: «Wenn ihr bloss wüsstet.».

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